Verstehen statt verurteilen: Prof. Dr. Gottschling und Stefan über Cannabistherapie bei Nervenkrankheiten

Epilepsie ist eine der häufigsten neurologischen Erkrankungen – doch für viele Betroffene ist der Alltag von Unsicherheit, Ängsten und Einschränkungen geprägt. Wenn klassische Medikamente nicht ausreichen oder zu starke Nebenwirkungen verursachen, suchen Patientinnen und Patienten nach neuen Wegen. Prof. Dr. Sven Gottschling, Palliativmediziner und Experte für Medizinalcannabis am Universitätsklinikum des Saarlandes, setzt sich seit Jahren für einen sachlichen, entstigmatisierenden Umgang mit Cannabis als Medizin ein. In diesem ausführlichen Arztbericht schildert er, wie Medizinalcannabis bei Epilepsie eingesetzt wird, welche Erfahrungen Patientinnen und Patienten machen und wie wichtig Aufklärung, ärztliche Begleitung und gesellschaftliche Offenheit sind.

Prof. Dr. Sven Gottschling spricht über die Chancen und Herausforderungen der Cannabistherapie.

Medizinalcannabis: Zwischen Vorurteilen und wissenschaftlicher Evidenz

Noch immer haftet Cannabis das Image einer Droge an. „Das ist genauso falsch, wie Morphin mit Heroin gleichzusetzen“, erklärt Prof. Dr. Gottschling. „Wir sprechen hier von einem streng kontrollierten, medizinischen Präparat, das gezielt und individuell eingesetzt wird.“ Die Stigmatisierung führe dazu, dass viele Patientinnen und Patienten sich nicht trauen, offen über ihre Therapie zu sprechen – aus Angst vor Vorurteilen im Freundes- oder Kollegenkreis oder gar vor Ablehnung durch Ärztinnen und Ärzte.

Doch die wissenschaftlichen Grundlagen sind klar: Das körpereigene Endocannabinoid-System spielt bei vielen neurologischen Prozessen eine zentrale Rolle. Cannabinoide wie THC und CBD wirken gezielt an diesen Rezeptoren, beeinflussen Schmerz, Krampfbereitschaft, Schlaf und Stimmung. „Gerade bei Epilepsie, wo klassische Medikamente oft versagen oder nicht vertragen werden, kann Cannabis eine echte Therapieoption sein“, so Gottschling.

Individuelle Therapie: Zuhören, Vertrauen, gemeinsam entscheiden

Ein zentrales Element in der Arbeit von Prof. Dr. Gottschling ist das Zuhören: „Viele Patientinnen und Patienten kommen mit einer langen Krankengeschichte. Sie sind bestens informiert, wissen, was sie schon alles probiert haben, und können ihre Beschwerden sehr präzise beschreiben.“ Doch oft erleben sie, dass ihnen im medizinischen Alltag nicht ausreichend zugehört wird. Studien zeigen, dass Patientinnen und Patienten im Arztgespräch meist nach weniger als 90 Sekunden unterbrochen werden – dabei ist das Ausredenlassen entscheidend für eine vertrauensvolle Beziehung.

Gottschling schildert: „Wenn ich dem Patienten zuhöre, ihn ausreden lasse und auf seine Alltagserfahrungen eingehe, entsteht sofort eine andere Gesprächsbasis. Wir können gemeinsam die Therapie planen und individuell entscheiden, welche Maßnahmen sinnvoll sind.“ Gerade bei chronischen Erkrankungen wie Epilepsie, wo die Symptome sehr unterschiedlich sein können, ist dieser partnerschaftliche Ansatz zentral.

Alltag mit Epilepsie: Zwischen Kontrollverlust und Hoffnung

Der Alltag mit Epilepsie ist von Unsicherheit geprägt. Unvorhersehbare Anfälle, Einschränkungen in Beruf, Freizeit und Familie, ständige Angst vor Kontrollverlust – all das belastet Betroffene und Angehörige. Stefan, einer der Patienten von Prof. Dr. Gottschling, berichtet offen: „Ich konnte irgendwann keine Flaschen mehr öffnen, Bücher nicht mehr festhalten, ja nicht mal mehr vernünftig auf der Tastatur schreiben. Es fehlten Buchstaben, Wörter, manchmal wusste ich gar nicht mehr, was ich gerade tippe.“

Diese Einschränkungen führten nicht nur zu körperlichen, sondern auch zu seelischen Belastungen. „Man zieht sich zurück, verliert das Selbstvertrauen, hat Angst, anderen zur Last zu fallen.“ Auch Schlafstörungen sind häufig – viele Patientinnen und Patienten berichten von ständiger Müdigkeit und Erschöpfung.

Der Wendepunkt: Erste Erfahrungen mit Medizinalcannabis

ür Stefan kam die Wende mit der Cannabistherapie. „Es dauerte zehn Minuten, dann waren die Krämpfe weg. Ich war völlig geflasht, wusste überhaupt nicht, was ich sagen sollte.“ Die Wirkung war für ihn und sein Umfeld überraschend: „Die gucken erst mal alle geschockt. Aber ich sage dann immer: Das ist wirklich gut, das bringt mir Lebensqualität zurück.“

Er berichtet weiter: „Ich kann wieder Flaschen öffnen, normal essen, Bücher festhalten. Selbst das Tippen auf der Tastatur klappt wieder. Vorher war das alles unmöglich.“ Auch die Angst vor Abhängigkeit oder starker Sedierung, wie sie seine Großtante äußerte, konnte Stefan entkräften: „Ich habe ihr gesagt, sie braucht keine Bedenken haben. Die Wirkung ist ganz anders als bei vielen anderen Medikamenten.“

Praktische Tipps für den Einstieg: Geduld, Selbstbeobachtung und ärztliche Begleitung

Der Beginn einer Cannabistherapie sollte immer unter ärztlicher Kontrolle erfolgen. Prof. Dr. Gottschling empfiehlt, die ersten Einnahmen in einer ruhigen Umgebung zu testen – idealerweise während einer Krankschreibung oder im Urlaub. „So kann man sich selbst beobachten, den Effekt feststellen und ohne Stress herausfinden, wie der Körper reagiert.“

Stefan ergänzt: „Nach der Einnahme war ich zwar erst platt, aber nicht dauerhaft wie bei anderen Medikamenten. Nach einer Viertelstunde Pause war alles gut – ich konnte Flaschen öffnen, normal essen, mein Buch festhalten.“ Wichtig sei, kleine Veränderungen zu notieren und mit dem Arzt zu besprechen. „Man muss sich herantasten, ausprobieren, wie viel man braucht und wann die Wirkung am besten ist.“

Regelmäßige Kontrolle und Anpassung: Cannabistherapie ist Teamarbeit

Die Therapie mit Medizinalcannabis erfordert regelmäßige ärztliche Kontrolle und Anpassung. Prof. Dr. Gottschling betont: „Wir sehen uns regelmäßig wieder, besprechen, wie es läuft, ob die Sorte passt, ob etwas verändert werden muss. Das ist bei jeder chronischen Erkrankung wichtig, aber bei Cannabis besonders, weil die Reaktionen sehr individuell sind.“

Dabei steht der Patient im Mittelpunkt: „Wir machen die Therapie mit dir zusammen. Ich mache Vorschläge, kläre auf, aber du entscheidest, was funktioniert. Jeder Mensch reagiert anders – was für den einen passt, muss beim nächsten angepasst werden.“

Lebensqualität zurückgewinnen: Alltag, Familie, Hobbys

Die Verbesserung der Lebensqualität ist für viele Patientinnen und Patienten das wichtigste Ziel. Stefan schildert: „Ich bin jetzt wirklich wieder angekommen. Am Anfang war es schwer, ich dachte, das war’s. Aber jetzt sage ich, ich möchte nicht mehr zurück. Ich stehe jeden Morgen früh auf, bin viel draußen, fahre Fahrrad, verbringe Zeit mit der Familie. Wir fahren regelmäßig nach Oberstdorf, treffen Freunde, genießen die Natur.“

Auch Rückschläge gehören dazu: „Es gibt dunkle Monate, da lege ich mich auch mal auf die Seite, aber insgesamt habe ich meine Lebensfreude zurückgewonnen.“ Die Therapie mit Medizinalcannabis ermöglicht es ihm, wieder aktiv am Leben teilzunehmen: „Ich kann wieder rausgehen, Fahrrad fahren, Enkelkinder betreuen. Das ist ein riesiges Geschenk.“

Stigmatisierung und gesellschaftliche Herausforderungen

Trotz der positiven Erfahrungen erleben viele Patientinnen und Patienten Stigmatisierung. „Die Dummheit in unserem Volk ist mitunter sehr groß“, sagt Stefan offen. „Ich habe differenziert abgewogen, wem ich das erzähle und wem nicht.“ Auch im Berufsleben kann die Offenheit zur Cannabistherapie zu Problemen führen. Stefan berichtet von einer Situation im Hotel, bei der Symptome seiner Erkrankung zu Missverständnissen führten – und letztlich zum Verlust seines Arbeitsplatzes.

Prof. Dr. Gottschling sieht hier großen Handlungsbedarf: „Wir brauchen mehr Aufklärung, um Vorurteile abzubauen. Medizinalcannabis ist ein sicheres, wirksames Medikament – kein gesellschaftliches Tabu. Die Erfahrungen der Patientinnen und Patienten müssen ernst genommen werden.“

Sicherheit und Nebenwirkungen: Fakten statt Angst

Viele Menschen haben Angst vor Nebenwirkungen oder Abhängigkeit. Prof. Dr. Gottschling klärt auf: „Das Suchtpotenzial von medizinisch verordnetem Cannabis ist bei sachgemäßer Anwendung sehr gering. Die meisten Nebenwirkungen – wie Müdigkeit, Mundtrockenheit oder leichter Schwindel – verschwinden meist nach kurzer Zeit.“

Im Vergleich zu klassischen Antiepileptika oder Schmerzmitteln ist das Sicherheitsprofil von Medizinalcannabis deutlich günstiger. „Organschäden wie bei Ibuprofen oder Opioiden treten bei Cannabis nicht auf. Viele Patientinnen und Patienten berichten, dass sie andere Medikamente reduzieren oder absetzen konnten.“

Wissenschaftliche Evidenz und offene Fragen

Die Studienlage zu Medizinalcannabis bei Epilepsie verbessert sich stetig. Insbesondere Cannabidiol (CBD) hat in mehreren klinischen Studien die Anfallshäufigkeit bei therapieresistenter Epilepsie signifikant reduziert [1][2]. Dennoch gibt es weiterhin Forschungsbedarf, etwa zu Langzeitwirkungen, optimalen Dosierungen und Einsatzmöglichkeiten bei weiteren Nervenkrankheiten.

Prof. Dr. Gottschling fordert mehr Forschung und den offenen Austausch zwischen Wissenschaft, Ärzteschaft und Betroffenen: „Nur so können wir die Therapie weiterentwickeln und noch mehr Menschen helfen.“

Patientenorientierte Kommunikation: Sprache, Verständnis, Empowerment

Ein weiterer Schlüssel zum Therapieerfolg ist die Sprache. Viele Patientinnen und Patienten kennen keine medizinischen Fachbegriffe, können ihre Beschwerden aber sehr genau beschreiben. Prof. Dr. Gottschling empfiehlt, auf diese Alltagssprache einzugehen: „Wenn ein Patient sagt, es fühlt sich an wie Brennnesseln oder wie ein dumpfer Schmerz, dann hilft mir das viel mehr als ein medizinischer Begriff.“

Er betont: „Die Schulmedizin passt auf 90 % der Menschen, aber was ist mit den anderen zehn Prozent? Da braucht es individuelle Lösungen, Offenheit und die Bereitschaft, gemeinsam neue Wege zu gehen.“

Rechtliche Hinweise und Tipps für den Alltag

Medizinalcannabis ist in Deutschland verschreibungspflichtig und wird von den Krankenkassen in vielen Fällen übernommen. Wichtig ist, sich die Verordnung und die medizinische Notwendigkeit vom behandelnden Arzt bestätigen zu lassen. Im Alltag sollten Patientinnen und Patienten ihre ärztlichen Unterlagen immer mitführen – insbesondere, wenn sie am Straßenverkehr teilnehmen oder auf Reisen gehen.

Prof. Dr. Gottschling rät: „Wer gut eingestellt ist und die Therapie verantwortungsvoll nutzt, darf grundsätzlich Auto fahren und am gesellschaftlichen Leben teilnehmen. Wichtig ist die regelmäßige ärztliche Kontrolle und offene Kommunikation mit dem Umfeld.“

Fazit: Medizinalcannabis als Chance für Menschen mit Epilepsie

Für Prof. Dr. Sven Gottschling ist medizinisches Cannabis eine wertvolle Ergänzung im therapeutischen Spektrum – besonders bei schweren Nervenkrankheiten wie Epilepsie, wenn herkömmliche Therapien nicht ausreichen. Entscheidend sind eine individuelle, ärztlich begleitete Behandlung, fundierte Aufklärung und der offene Dialog über Chancen und Grenzen. „Unser Ziel muss sein, jedem Patienten die bestmögliche Lebensqualität zu ermöglichen – und dafür kann Cannabis in vielen Fällen ein wichtiger Baustein sein.“

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