Verstehen statt verurteilen: Prof. Dr. Gottschling und Stefan über Cannabistherapie bei Nervenkrankheiten

Erstellt am:22.06.2025- Zuletzt aktualisiert:24.07.2025

Epilepsie ist eine der häufigsten neurologischen Erkrankungen – doch für viele Betroffene ist der Alltag von Unsicherheit, Ängsten und Einschränkungen geprägt. Wenn klassische Medikamente nicht ausreichen oder zu starke Nebenwirkungen verursachen, suchen Patientinnen und Patienten nach neuen Wegen. Prof. Dr. Sven Gottschling, Palliativmediziner und Experte für Medizinalcannabis am Universitätsklinikum des Saarlandes, setzt sich seit Jahren für einen sachlichen, entstigmatisierenden Umgang mit Cannabis als Medizin ein. In diesem ausführlichen Arztbericht schildert er, wie Medizinalcannabis bei Epilepsie eingesetzt wird, welche Erfahrungen Patientinnen und Patienten machen und wie wichtig Aufklärung, ärztliche Begleitung und gesellschaftliche Offenheit sind.

Prof. Dr. Sven Gottschling spricht über die Chancen und Herausforderungen der Cannabistherapie.

Diese ExpertInnen wurden für diesen Beitrag interviewed

  • Medizinalcannabis ist eine Option bei therapieresistenter Epilepsie.
  • Individuelle Therapieplanung und ärztliche Begleitung sind zentral.
  • Patienten berichten von mehr Lebensqualität und Selbstständigkeit.
  • Stigmatisierung bleibt eine Herausforderung im Alltag.
  • Wissenschaftliche Evidenz zu CBD wächst stetig.
  • Regelmäßige Kontrolle und Anpassung der Therapie sind wichtig.
  • Offene Kommunikation fördert Therapieerfolg und Akzeptanz.

Mein Name ist Prof. Dr. Sven Gottschling. Ich bin hier am Zentrum für all das Übergreifende Palliativmedizin Kinder Schmerztherapie an Uniklinikum des Saarlandes in Homburg darf diesen Bereich leiten. Ich bin von Haus aus eigentlich Kinderarzt, war die ersten zehn Jahre meines Berufslebens Kinder Onkologe und mache jetzt seit 2010 Schmerzmedizin, Palliativmedizin, Komplementärmedizin. Also das heißt viel Akupunktur, andere Geschichten und bin aber von Minute eins an als Arzt im Bereich Cannabis basierter Arzneimitteltherapie tätig und ich das schon sehr früh in der Kinderonkologie kennengelernt habe.

Den Einsatz als Medikament gegen Übelkeit oder auch gegen ungewollten Gewichtsverlust bei Kindern mit Krebserkrankungen. Also ich habe tatsächlich als ganz, ganz, ganz junger Arzt in meiner ersten Berufswoche in der Kinderonkologie zwei Patienten mit betreut, die von den ganz erfahrenen Kollegen und meinem damaligen Chef mit THC behandelt wurden. Bei nicht stillbarer Übelkeit und einer sehr aggressiven Chemotherapie. Das war ein Kind und das andere Kind hatte einen dramatischen Gewichtsverlust.

Und es war damals schon klar, dass das prognostisch hinsichtlich der Überleben swahrscheinlichkeit eine Rolle spielt, dass wir irgendwie noch mal ein paar Kilo an dieses arme Kind dran bekommen und auch da habe ich den Einsatz von THC zur Appetitssteigerung erlebt und hab einfach total früh super positive Effekte gesehen und hatte eigentlich direkt auch einen Zugang zu Cannabinoiden und bin da auch sehr früh in sehr vorurteilsarm bis vorurteilsfrei an das Thema dran.

Ich finde es super wesentlich, dass man auf jeden Fall differenziert zwischen Cannabinoiden im medizinischen Einsatz und Cannabis als Freizeit Rauschmittel. Das ist genauso unterschiedlich wie Morphin als Schmerzmittel und Heroin als Droge. Und gerade beim Thema Cannabis finden hier einfach unglaublich viele Vermischungen statt. Es wird nicht klar differenziert zwischen Freizeitanwendungen, Genussmittel, Rauschmittel und medizinischem Einsatz. Und es ist glaube ich auch vielen Kollegen weiterhin nicht so wirklich bewusst, welchen Stellenwert Cannabinoide in der echten medizinischen Versorgung bei Menschen mit gravierenden Problemen hat.

Beim Morphin ist das jedem klar, dass das unverzichtbar ist. Bei Cannabis müssen wir hier noch ein bisschen mehr Aufklärungsarbeit leisten. Und ich würde mir schon wünschen, dass die Kollegen verstehen, dass wir hierfür eine ganze Reihe belastender Symptome, eine exzellente zusätzliche Behandlungsoption haben, die gut verträglich ist, die nebenwirkungsarm ist und die auch wenig Interaktionsrisiko mit anderen Medikamenten bietet und die bis heute noch keinen einzigen Todesfall jemals und weltweit verursacht hat.

Also von dem her darf man auch mit einem sehr sicheren Gefühl an das Thema herangehen. Also ich erkläre Patienten immer, dass Cannab inoide zu den wenigen Substanzen gehören, die auch in einer Langzeitanwendung keinerlei Organ toxizität mit sich bringen. Das heißt, selbst wenn ich das über Jahre Jahrzehnte nehme, gehen mir die Nieren nicht kaputt, die Leber bleibt heil, das Herz nimmt keinen Schaden.

Das finde ich schon ein ganz, ganz wesentliches Argument. Das Thema Es handelt sich um eine sichere, Rezeptor vermittelte Wirkung, die ein körpereigenes System bedient. Ich erkläre den Menschen, dass wir diese Stoffe in uns selber tragen, dass das Rezeptorsystem ja im menschlichen Körper existiert und das existiert ja nicht ohne Grund. Und dass wir einfach Situationen haben, wo wir von außen eine Dosis zuführen müssen, die der Körper so selber in der Höhe nicht produzieren kann.

Aber dass wir eine körpereigene Wirkung imitieren und dass wir jetzt nicht mit irgendeiner wildfremden Substanz in einen, in ein Gefüge hineingrätschen, wie wir es ja mit vielen anderen Medikamenten machen und ganz großen Haufen von Nebenwirkungen quasi noch mit dazu zum Patienten tragen. Und ich glaube, diese Botschaft kommt bei vielen Patienten auch an andere Thematik ist ja immer Abhängigkeit, also werde ich davon abhängig oder süchtig.

Und auch das kann man Patienten ganz klar erklären, dass dieses Thema körperliche Abhängigkeit im Sinne von Gewöhnung bei Cannabinoiden in der Regel überhaupt kein Thema ist. Ich kann auch nach einer längeren Anwendung die abrupt absetzen, ohne dass die Patienten in der Entzugsymptomatik kommen. Und diese psychische Abhängigkeit im Sinne von Das war so super, das will ich wiederhaben. Dieses Risiko ist bei oraler Cannabinoide Gabe auch bei faktisch Null.

Also von dem her sind das total sichere Substanzen. Und meine Erfahrung ist, wenn man mit Patienten darüber offen redet, das sofort auf den Tisch legt, also auch wirklich proaktiv mögliche Ressentiments anspricht, kann man die super schnell ausräumen. Und ich habe eigentlich überhaupt keine Schwierigkeiten. Patienten eine cannabinoide Therapie, wenn ich es denn medizinisch für sinnvoll erachte, auch schmackhaft zu machen.

Wir haben ja viele Menschen, die unter gravierenden körperlichen Symptomen leiden. Alle körperlichen Beschwerden führen zu einer Grundproblematik. Also wenn es mir permanent schlecht ist, wenn ich Schmerzen habe, wenn ich Luftnot habe, wenn ich andere Belastungen habe, dann ist meine Lebensqualität reduziert bis miserabel. Und von dem Wir müssen alle unsere Bestrebungen immer ein Ziel haben Zum einen die Symptome zu reduzieren, aber das große, übergeordnete Ziel ist immer eine Verbesserung der gesundheitsbezogenen Lebensqualität.

Und das hat ganz viel auch mit Entspannungsfähigkeit, mit Schlafqualität, mit weniger Angst zu tun. Und dadurch, dass Cannabinoide unsere körpereigenen wieder Aufladen und Stabilisation Systeme stützen, haben die da auch so eine übergeordnete Rolle, dass sich Menschen auch wirklich besser fühlen unter der Einnahme von Cannabinoiden? Zum einen verbessert die Symptome und zum anderen macht das auch so ein grundsätzliches ich nenne es mal Wohlgefühl oder einfach auch eine Reduktion von Unwohlgefühl, auch im Sinne von schlechte Stimmung.

Und das ist für unsere Patienten total bedeutsam. Oftmals merken es die Patienten gar nicht und ich hole mir immer gerne auch den Partner dazu zu solchen Gesprächen. Und ich erlebt es nicht oft, dass ein Patient vor mir sitzt und sagt Ich habe aber immer noch Schmerzen und dann grätscht der Partner rein, sagt Ja, aber du schläfst besser, du bist besser drauf.

Wir sind abends noch mal weggegangen, du konntest bestimmte Sachen noch mal genießen. Also oft ist auch dieser Blick nahe Angehöriger oder Zugehöriger total wichtig und rückt das Ganze so noch mal in ein richtiges Licht. Und da erlebe ich einfach eine extrem gute Wirk effektivität der Cannabinoide. Also ich würde immer noch gerne differenzieren zwischen Cannabis als Medikament für schwerkranke Menschen und Cannabis als Genussmittel, Rauschdroge oder auch als Möglichkeit für weniger schwerkranke Menschen, sich bei gesundheitsbezogenen Störungen selber zu helfen.

Für die schwerstkranken Patienten bin ich der Meinung, sollte das weiterhin ärztlich induziert gesteuert werden. Die haben so viele Probleme, so viele andere Medikamente. Das muss jemand mit Erfahrung im Blick haben und die Behandlung steuern. Und in meinen Augen muss das auch weiterhin ganz klar vonseiten der Krankenkassen bezahlt werden, weil das sind Menschen, die sich nicht ausgesucht haben, dass sie diese gravierenden Probleme haben.

Und von dem her fände ich es nicht fair und auch keine gute Idee zu sagen So, jetzt ist es legal, besorgst du da irgendwo für dein Geld? Denn diese Menschen brauchen ja eine medizinische Führung und Beratung hat eins und die meisten Schwerkranken und Langzeitkranken zeichnen sich nicht dadurch aus, dass sie nicht wissen, wohin mit ihrem Geld. Und die haben ja ein echtes medizinisches Problem.

Und von dem her finde ich es auch total in Ordnung, dass auch die Gemeinschaft der Beitragszahler für diese speziellen Patienten auch für die Kosten aufkommt. War nie derjenige, der gesagt hat, wir müssen jetzt unbedingt legalisieren, sondern ich sehe das durchaus differenziert und kritisch. Ich bin auch kein Freund davon zu sagen, ab 18, weil mir diese gesundheitlichen Risiken auch bei den Heranwachsenden dann sage ich mal so bis 21 durchaus, da zu sehr aus dem Blick geraten.

Also wenn ich da Verantwortung tragen würde, würde ich definitiv sagen, das sollte also THC haltige Cannabinoide sollten für Menschen vor dem 21. Lebensjahr tabu sein. Man sollte sehr deutlich darüber aufklären, was das für Risiken beinhaltet und wir müssen sehr, sehr viel mehr noch in Prävention, in Aufklärung und Jugendschutz hineingehen. Einfach auch, um Jugendliche und junge Erwachsene vor den möglichen Risiken definitiv zu warnen.

Andererseits muss man sagen Die ja Jahrzehnte bisher schon fast jahrhundertelange Prohibition Prohibitionspolitik ist ja krachend gescheitert und wir sind uns glaube ich auch alle einig, dass in Summe der Risiken. Wenn man das mal betrachtet, dann ist Cannabis vom Risikoprofil her ein schlechter Witz im Vergleich zu Alkohol und Nikotin. Klar kommt immer das Argument Ja, aber die Volksdrogen haben wir ja schon legal.

Auf dem Markt brauchen wir dann noch eine dritte. Aber wie gesagt, wenn ich das einfach mal in den Kontext setze, dann ist das die harmloseste derer drei. Und von dem her bin ich schon auch der Meinung, dass ein anderer und auch etwas entspanntere Umgang auch mit einer dann vielleicht kommenden Legalisierung keine so ganz schlechte Idee ist. Also für mich ist das natürlich ein super schönes Erlebnis, auch wenn ich Menschen helfen kann.

Das heißt, wenn ich Symptome lindern kann, wenn ich merke, es geht Menschen besser. Sie haben noch mal eine verbesserte Teilhabe am Leben. Sie können vielleicht wieder in die Schule gehen, sie können eine Ausbildung beginnen, können die vielleicht auch wirklich abschließen und schaffen auch so diesen Sprung in eine gewisse Selbstständigkeit. Und ich habe halt einfach immer das gute Gefühl dabei, dass ich hier Substanzen einsetze, die mir einfach keine Langzeitschäden bei diesen, bei diesen Menschen setzen, weil ich habe ansonsten als Mediziner ja immer so ein bisschen dieses Unwohlgefühl, irgendwas muss sich anbieten.

Aber ich habe sehr, sehr viele Behandlungsoptionen, wo ich weiß, das geht mit gravierenden Nebenwirkungen einher. Wenn jemand fünf oder zehn Jahre die Substanz nimmt, dann wird das oder das mit einer hohen Wahrscheinlichkeit passieren. Also da schwingt immer so ein bisschen dieses Gefühl mit Ja, ich helfe Menschen, aber was tue ich ihnen auf der anderen Seite vielleicht trotzdem auch an?

Und ist das in einem Verhältnis? Also wir reden ja immer von der medizinischen oder ärztlichen Indikation, Das heißt, ich muss mir immer sicher sein, dass alles, was ich medizinisch tue, für den Betroffenen einen höheren Nutzen hat und damit den möglichen Schaden übersteigt. Und da bin ich mir einfach bei keiner inoiden total sicher, dass ich hier niemand ein gravierenderes Langzeitproblem beschere.

Und von dem her geht das bei mir mit einem richtig guten Gefühl einher.

Medizinalcannabis: Zwischen Vorurteilen und wissenschaftlicher Evidenz

Noch immer haftet Cannabis das Image einer Droge an. „Das ist genauso falsch, wie Morphin mit Heroin gleichzusetzen“, erklärt Prof. Dr. Gottschling. „Wir sprechen hier von einem streng kontrollierten, medizinischen Präparat, das gezielt und individuell eingesetzt wird.“ Die Stigmatisierung führe dazu, dass viele Patientinnen und Patienten sich nicht trauen, offen über ihre Therapie zu sprechen – aus Angst vor Vorurteilen im Freundes- oder Kollegenkreis oder gar vor Ablehnung durch Ärztinnen und Ärzte.

Doch die wissenschaftlichen Grundlagen sind klar: Das körpereigene Endocannabinoid-System spielt bei vielen neurologischen Prozessen eine zentrale Rolle. Cannabinoide wie THC und CBD wirken gezielt an diesen Rezeptoren, beeinflussen Schmerz, Krampfbereitschaft, Schlaf und Stimmung. „Gerade bei Epilepsie, wo klassische Medikamente oft versagen oder nicht vertragen werden, kann Cannabis eine echte Therapieoption sein“, so Gottschling.

Individuelle Therapie: Zuhören, Vertrauen, gemeinsam entscheiden

Ein zentrales Element in der Arbeit von Prof. Dr. Gottschling ist das Zuhören: „Viele Patientinnen und Patienten kommen mit einer langen Krankengeschichte. Sie sind bestens informiert, wissen, was sie schon alles probiert haben, und können ihre Beschwerden sehr präzise beschreiben.“ Doch oft erleben sie, dass ihnen im medizinischen Alltag nicht ausreichend zugehört wird. Studien zeigen, dass Patientinnen und Patienten im Arztgespräch meist nach weniger als 90 Sekunden unterbrochen werden – dabei ist das Ausredenlassen entscheidend für eine vertrauensvolle Beziehung.

Gottschling schildert: „Wenn ich dem Patienten zuhöre, ihn ausreden lasse und auf seine Alltagserfahrungen eingehe, entsteht sofort eine andere Gesprächsbasis. Wir können gemeinsam die Therapie planen und individuell entscheiden, welche Maßnahmen sinnvoll sind.“ Gerade bei chronischen Erkrankungen wie Epilepsie, wo die Symptome sehr unterschiedlich sein können, ist dieser partnerschaftliche Ansatz zentral.

Alltag mit Epilepsie: Zwischen Kontrollverlust und Hoffnung

Der Alltag mit Epilepsie ist von Unsicherheit geprägt. Unvorhersehbare Anfälle, Einschränkungen in Beruf, Freizeit und Familie, ständige Angst vor Kontrollverlust – all das belastet Betroffene und Angehörige. Stefan, einer der Patienten von Prof. Dr. Gottschling, berichtet offen: „Ich konnte irgendwann keine Flaschen mehr öffnen, Bücher nicht mehr festhalten, ja nicht mal mehr vernünftig auf der Tastatur schreiben. Es fehlten Buchstaben, Wörter, manchmal wusste ich gar nicht mehr, was ich gerade tippe.“

Diese Einschränkungen führten nicht nur zu körperlichen, sondern auch zu seelischen Belastungen. „Man zieht sich zurück, verliert das Selbstvertrauen, hat Angst, anderen zur Last zu fallen.“ Auch Schlafstörungen sind häufig – viele Patientinnen und Patienten berichten von ständiger Müdigkeit und Erschöpfung.

Der Wendepunkt: Erste Erfahrungen mit Medizinalcannabis

ür Stefan kam die Wende mit der Cannabistherapie. „Es dauerte zehn Minuten, dann waren die Krämpfe weg. Ich war völlig geflasht, wusste überhaupt nicht, was ich sagen sollte.“ Die Wirkung war für ihn und sein Umfeld überraschend: „Die gucken erst mal alle geschockt. Aber ich sage dann immer: Das ist wirklich gut, das bringt mir Lebensqualität zurück.“

Er berichtet weiter: „Ich kann wieder Flaschen öffnen, normal essen, Bücher festhalten. Selbst das Tippen auf der Tastatur klappt wieder. Vorher war das alles unmöglich.“ Auch die Angst vor Abhängigkeit oder starker Sedierung, wie sie seine Großtante äußerte, konnte Stefan entkräften: „Ich habe ihr gesagt, sie braucht keine Bedenken haben. Die Wirkung ist ganz anders als bei vielen anderen Medikamenten.“

Praktische Tipps für den Einstieg: Geduld, Selbstbeobachtung und ärztliche Begleitung

Der Beginn einer Cannabistherapie sollte immer unter ärztlicher Kontrolle erfolgen. Prof. Dr. Gottschling empfiehlt, die ersten Einnahmen in einer ruhigen Umgebung zu testen – idealerweise während einer Krankschreibung oder im Urlaub. „So kann man sich selbst beobachten, den Effekt feststellen und ohne Stress herausfinden, wie der Körper reagiert.“

Stefan ergänzt: „Nach der Einnahme war ich zwar erst platt, aber nicht dauerhaft wie bei anderen Medikamenten. Nach einer Viertelstunde Pause war alles gut – ich konnte Flaschen öffnen, normal essen, mein Buch festhalten.“ Wichtig sei, kleine Veränderungen zu notieren und mit dem Arzt zu besprechen. „Man muss sich herantasten, ausprobieren, wie viel man braucht und wann die Wirkung am besten ist.“

Regelmäßige Kontrolle und Anpassung: Cannabistherapie ist Teamarbeit

Die Therapie mit Medizinalcannabis erfordert regelmäßige ärztliche Kontrolle und Anpassung. Prof. Dr. Gottschling betont: „Wir sehen uns regelmäßig wieder, besprechen, wie es läuft, ob die Sorte passt, ob etwas verändert werden muss. Das ist bei jeder chronischen Erkrankung wichtig, aber bei Cannabis besonders, weil die Reaktionen sehr individuell sind.“

Dabei steht der Patient im Mittelpunkt: „Wir machen die Therapie mit dir zusammen. Ich mache Vorschläge, kläre auf, aber du entscheidest, was funktioniert. Jeder Mensch reagiert anders – was für den einen passt, muss beim nächsten angepasst werden.“

Lebensqualität zurückgewinnen: Alltag, Familie, Hobbys

Die Verbesserung der Lebensqualität ist für viele Patientinnen und Patienten das wichtigste Ziel. Stefan schildert: „Ich bin jetzt wirklich wieder angekommen. Am Anfang war es schwer, ich dachte, das war’s. Aber jetzt sage ich, ich möchte nicht mehr zurück. Ich stehe jeden Morgen früh auf, bin viel draußen, fahre Fahrrad, verbringe Zeit mit der Familie. Wir fahren regelmäßig nach Oberstdorf, treffen Freunde, genießen die Natur.“

Auch Rückschläge gehören dazu: „Es gibt dunkle Monate, da lege ich mich auch mal auf die Seite, aber insgesamt habe ich meine Lebensfreude zurückgewonnen.“ Die Therapie mit Medizinalcannabis ermöglicht es ihm, wieder aktiv am Leben teilzunehmen: „Ich kann wieder rausgehen, Fahrrad fahren, Enkelkinder betreuen. Das ist ein riesiges Geschenk.“

Stigmatisierung und gesellschaftliche Herausforderungen

Trotz der positiven Erfahrungen erleben viele Patientinnen und Patienten Stigmatisierung. „Die Dummheit in unserem Volk ist mitunter sehr groß“, sagt Stefan offen. „Ich habe differenziert abgewogen, wem ich das erzähle und wem nicht.“ Auch im Berufsleben kann die Offenheit zur Cannabistherapie zu Problemen führen. Stefan berichtet von einer Situation im Hotel, bei der Symptome seiner Erkrankung zu Missverständnissen führten – und letztlich zum Verlust seines Arbeitsplatzes.

Prof. Dr. Gottschling sieht hier großen Handlungsbedarf: „Wir brauchen mehr Aufklärung, um Vorurteile abzubauen. Medizinalcannabis ist ein sicheres, wirksames Medikament – kein gesellschaftliches Tabu. Die Erfahrungen der Patientinnen und Patienten müssen ernst genommen werden.“

Sicherheit und Nebenwirkungen: Fakten statt Angst

Viele Menschen haben Angst vor Nebenwirkungen oder Abhängigkeit. Prof. Dr. Gottschling klärt auf: „Das Suchtpotenzial von medizinisch verordnetem Cannabis ist bei sachgemäßer Anwendung sehr gering. Die meisten Nebenwirkungen – wie Müdigkeit, Mundtrockenheit oder leichter Schwindel – verschwinden meist nach kurzer Zeit.“

Im Vergleich zu klassischen Antiepileptika oder Schmerzmitteln ist das Sicherheitsprofil von Medizinalcannabis deutlich günstiger. „Organschäden wie bei Ibuprofen oder Opioiden treten bei Cannabis nicht auf. Viele Patientinnen und Patienten berichten, dass sie andere Medikamente reduzieren oder absetzen konnten.“

Wissenschaftliche Evidenz und offene Fragen

Die Studienlage zu Medizinalcannabis bei Epilepsie verbessert sich stetig. Insbesondere Cannabidiol (CBD) hat in mehreren klinischen Studien die Anfallshäufigkeit bei therapieresistenter Epilepsie signifikant reduziert. Dennoch gibt es weiterhin Forschungsbedarf, etwa zu Langzeitwirkungen, optimalen Dosierungen und Einsatzmöglichkeiten bei weiteren Nervenkrankheiten.

Prof. Dr. Gottschling fordert mehr Forschung und den offenen Austausch zwischen Wissenschaft, Ärzteschaft und Betroffenen: „Nur so können wir die Therapie weiterentwickeln und noch mehr Menschen helfen.“

Patientenorientierte Kommunikation: Sprache, Verständnis, Empowerment

Ein weiterer Schlüssel zum Therapieerfolg ist die Sprache. Viele Patientinnen und Patienten kennen keine medizinischen Fachbegriffe, können ihre Beschwerden aber sehr genau beschreiben. Prof. Dr. Gottschling empfiehlt, auf diese Alltagssprache einzugehen: „Wenn ein Patient sagt, es fühlt sich an wie Brennnesseln oder wie ein dumpfer Schmerz, dann hilft mir das viel mehr als ein medizinischer Begriff.“

Er betont: „Die Schulmedizin passt auf 90 % der Menschen, aber was ist mit den anderen zehn Prozent? Da braucht es individuelle Lösungen, Offenheit und die Bereitschaft, gemeinsam neue Wege zu gehen.“

Rechtliche Hinweise und Tipps für den Alltag

Medizinalcannabis ist in Deutschland verschreibungspflichtig und wird von den Krankenkassen in vielen Fällen übernommen. Wichtig ist, sich die Verordnung und die medizinische Notwendigkeit vom behandelnden Arzt bestätigen zu lassen. Im Alltag sollten Patientinnen und Patienten ihre ärztlichen Unterlagen immer mitführen – insbesondere, wenn sie am Straßenverkehr teilnehmen oder auf Reisen gehen.

Prof. Dr. Gottschling rät: „Wer gut eingestellt ist und die Therapie verantwortungsvoll nutzt, darf grundsätzlich Auto fahren und am gesellschaftlichen Leben teilnehmen. Wichtig ist die regelmäßige ärztliche Kontrolle und offene Kommunikation mit dem Umfeld.“

Fazit: Medizinalcannabis als Chance für Menschen mit Epilepsie

Für Prof. Dr. Sven Gottschling ist medizinisches Cannabis eine wertvolle Ergänzung im therapeutischen Spektrum – besonders bei schweren Nervenkrankheiten wie Epilepsie, wenn herkömmliche Therapien nicht ausreichen. Entscheidend sind eine individuelle, ärztlich begleitete Behandlung, fundierte Aufklärung und der offene Dialog über Chancen und Grenzen. „Unser Ziel muss sein, jedem Patienten die bestmögliche Lebensqualität zu ermöglichen – und dafür kann Cannabis in vielen Fällen ein wichtiger Baustein sein.“

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Häufig gestellte Fragen

Ja, für bestimmte seltene schwere Epilepsieformen im Kindesalter ist ein CBD-Medikament zugelassen. Kinder ab zwei Jahren mit Dravet- oder Lennox-Gastaut-Syndrom können unter engmaschiger Überwachung Cannabidiol (Epidyolex®) erhalten.5 In anderen Fällen entscheidet der Arzt individuell über einen off-label Einsatz.

5 Suraev, A., Lintzeris, N., Stuart, J. et al. Composition and Use of Cannabis Extracts for Childhood Epilepsy in the Australian Community. Sci Rep8, 10154 (2018). https://doi.org/10.1038/s41598-018-28127-0

Es gibt einige Berichte von Betroffenen oder Eltern, die über weniger Anfälle dank CBD berichten. Die mediale Berichterstattung über spektakuläre Einzelfälle hat die Erwartungen erhöht. Man sollte solche Fallberichte aber mit Vorsicht betrachten, da es sich um subjektive Erfahrungen handelt.

Bei medizinischer Anwendung unter ärztlicher Aufsicht ist das Abhängigkeitsrisiko von Medizinalcannabis gering, da die Dosis und die Verschreibungsmenge sorgfältig von dem/der behandelnden Ärzt:in überwacht werden.

Die häufigsten Nebenwirkungen sind u. a. anfängliche Müdigkeit, Schwindel oder trockener Mund.4 Die meisten Nebenwirkungen treten zu Beginn der Therapie auf und lassen mit der Zeit nach. Durch eine ärztliche Begleitung und individuelle Dosierung können die Nebenwirkungen minimiert werden. Bei Unsicherheiten sprechen Sie bitte mit Ihrem Arzt/Ihrer Ärztin.

4 Bar-Lev Schleider L, Mechoulam R, Sikorin I, Naftali T, Novack V. Adherence, Safety, and Effectiveness of Medical Cannabis and Epidemiological Characteristics of the Patient Population: A Prospective Study. Front Med (Lausanne). 2022 Feb 9;9:827849. doi: 10.3389/fmed.2022.827849.